„Eine synodale Kirche entsteht“
Wort zu Beginn der Österlichen Bußzeit 2023 - Fastenhirtenbrief von Reinhard Kardinal Marx
Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum München und Freising,
es war zu Beginn meines Erstkommunionunterrichts im Jahre 1962: Wir haben uns als Kommunionkinder der Stiftspfarrei in Geseke in der Kirche versammelt und für ein gutes Gelingen des gerade angefangenen Zweiten Vatikanischen Konzils gebetet. Ich sehe noch den Gebetszettel vor mir mit einem Bild von Papst Johannes XXIII., der in seiner berühmten Eröffnungsansprache des Konzils am 11. Oktober 1962 die Grundmelodie seines Denkens deutlich gemacht hat. Ich habe diese Rede später als Oberstufenschüler und Seminarist immer wieder angeschaut und sie hat mich jedes Mal begeistert und motiviert. Darin geht er auch auf die Stimmungslage in der Kirche ein und beschreibt die „Unglückspropheten“, die in der Gegenwart nur Schlechtes und Negatives entdecken wollen, die Vergangenheit verklären, als sei in der Geschichte der Kirche früher alles richtig und gut und friedlich verlaufen. Und er stellt dem entgegen: „Wir aber sind völlig anderer Meinung“. Er lädt dazu ein, in den Umbrüchen und Herausforderungen Zeichen der Zeit zu entdecken und sie zu lesen im Lichte des Evangeliums. Denn der Heilige Geist wirkt nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Schöpfung und in der Geschichte, im Leben der Menschen. Johannes XXIII. ruft die Teilnehmer des Konzils bewusst auf, mutig und offen zu werden, Ausschau zu halten nach dem, was möglich ist, den Schatz des Glaubens neu auszusagen, neu zum Strahlen zu bringen, in neuer Weise den Menschen nahezubringen.
Nach gut 60 Jahren scheint mir das ungebrochen aktuell zu sein. Deshalb hat Papst Franziskus die ganze Kirche eingeladen, sich auf einen synodalen Prozess, auf einen synodalen Weg einzulassen. Es geht um eine Art Erkundungsweg, um die weltweite Kirche neu zu orientieren und aufzuzeigen, wie das Evangelium und der „Schatz unseres Glaubens“ heute neu gelebt, in Worte gebracht und gefeiert werden können. Papst Franziskus ist klar, dass ein nostalgischer Rückblick und die Verklärung der Vergangenheit nicht weiterhelfen. Es braucht Offenheit und Mut und die Bereitschaft zur Veränderung!
Papst Franziskus hat seine Gedanken hierzu zum ersten Mal ausführlich 2015 in Rom vorgetragen; ich war damals dabei und konnte zwei Tage später mit ihm über seine Rede sprechen und habe ihm gesagt: Heiliger Vater, Sie haben vier oder fünf Mal das Wort „synodale Kirche“ benutzt; das ist ein neuer Begriff, den es vorher so nicht gegeben hat und das ist noch nicht gefüllt. Es ist offen, was es bedeutet. Und er schaute mich an und nickte: Ja. - Und genau auf diesem Weg sind wir. Der Synodale Weg in Deutschland nimmt in besonderer Weise seinen Ausgang von der Erfahrung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche, und ist einer der Wege, die jetzt zu einer universalkirchlichen Suchbewegung geworden sind. Auch in anderen Ländern und Kontinenten wird deutlich, dass die Wahrnehmung und der Schock über sexuellen Missbrauch im Raum der Kirche diesen Veränderungswillen, die Bereitschaft zur Umkehr und zur Erneuerung vertieft und zwingend notwendig macht.
Die Begriffe synodale Kirche, Synodaler Weg, Synodalität, Synode sind fast zu „Zauberworten“ geworden, denen man alles zutraut, in der Hoffnung, dass die Herausforderungen und Probleme, vor denen unsere Gemeinschaft schon lange steht, nun alle lösbar werden. Wir spüren, dass die Begrifflichkeiten Schritt für Schritt gefüllt werden müssen und dass sich erst im Gehen dieses Weges die Kirche hin zu einer synodalen Kirche entwickelt. Dieser Weg hat begonnen und ist keineswegs abgeschlossen. Es gibt keine einfachen Lösungen, erst recht nicht, wenn sie bedeuten sollten, wieder eine Kirche zu werden, wie sie in der Vergangenheit – zum Beispiel in meiner Kinderzeit – scheinbar gewesen sein soll.
Synode heißt übersetzt nichts anderes als: Gemeinsam auf dem Weg sein. Dafür sind drei Etappen – gleich ob in der Weltkirche, in der Kirche in Deutschland, in einem Bistum oder auch in einer Pfarrei - unverzichtbar. Diese drei sind:
- Erstens: Sehen - die Wirklichkeit anschauen, die Realitäten in der Kirche und in der Welt wirklich wahrnehmen.
- Zweitens: Unterscheiden - im Licht des Evangeliums und im Hören aufeinander und auf die Zeichen der Zeit, im Blick auf die Tradition der Kirche, im gemeinsamen Gebet und in der Feier der Eucharistie ausmachen, was der Geist Gottes uns sagen will. Für dieses Element braucht es Zeit, Geduld und den Willen, Einmütigkeit anzuzielen.
- Drittens: Entscheiden - in möglichst großer Einmütigkeit einen Weg, eine neue Perspektive, eine Veränderung wählen und dies dann auch umsetzen.
Unser Synodaler Weg in Deutschland wird bald einen vorläufigen Abschluss haben. Aber das Projekt einer synodalen Kirche ist damit noch nicht zu Ende! Auch zum Rückblick auf den bisherigen Prozess wird die Unterscheidung, die Kritik gehören und das Lernen daraus. In den Versammlungen des Synodalen Weges ist auch sichtbar geworden, dass es unterschiedliche Ansichten gibt: innerhalb der Gruppe der Synodalen und auch innerhalb der Bischofskonferenz. Das kann in einem solchen Prozess nicht überraschen, und trotz aller Unterschiedlichkeiten müssen wir uns bemühen, in den wesentlichen Punkten Gemeinsamkeit zu finden. Das kann aber nicht gelingen, wenn wir nur wiederholen, was war. Sondern wir müssen einen Schritt nach vorne gehen. Synode heißt eben miteinander gehen, und nicht miteinander stehenbleiben.
Die Einheit der Kirche ist ein hohes Gut! Aber sie bedeutet nicht Einheitlichkeit oder Uniformität und auch nicht, bestimmte Sätze und Bekenntnisse einfach nur zu proklamieren, ohne sich mit der Welt von heute
und den Fragen der Menschen auseinanderzusetzen.
Ich hoffe und bete, dass unser Weg in Deutschland durch alle Turbulenzen hindurch Perspektiven für die Zukunft zeigt und damit auch beiträgt zum synodalen Prozess der Weltkirche. Schon jetzt sehen wir, wie sehr die Diskussionen und Suchbewegungen im Volk Gottes auch in anderen Ländern und Kontinenten durchaus vieles von dem widerspiegeln, worüber wir sprechen. Das gilt für die Beteiligung des ganzen Volkes Gottes an Beratungen und Entscheidungen, für ein neues Zukunftsbild des priesterlichen Dienstes, für die Einbeziehung der Frauen in die amtliche Struktur der Kirche, für die Sexualmoral und anderes mehr.
Vor allem kommt es aber darauf an, die Haltung von Papst Johannes XXIII. zu Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils wieder lebendig werden zu lassen: Mut und Zuversicht! Mit Angst werden wir den Weg nicht gehen können, sondern mit dem Mut zur Veränderung, der hoffentlich auch in den Voten und Beschlüssen des Synodalen Weges in Deutschland sichtbar wird. Es geht darum, in einer Welt mit so herausfordernden Umbrüchen und Krisen als Kirche nicht um das eigene Überleben zu kreisen, sondern den Auftrag Jesu jetzt und hier anzunehmen, das Reich Gottes zu verkünden und die Wahrheit des Evangeliums, den Schatz des Glaubens sichtbar zu machen. Der Prozess, eine synodale Kirche zu werden, ist - hier bei uns und weltweit - ein wichtiger und notwendiger Baustein zur Evangelisierung in unserem Land.
Helfen Sie bitte durch Ihr Gebet und Ihr Engagement mit, dass wir in unserem Erzbistum in allen Diskussionen und bei unterschiedlichen Positionen miteinander auf diesem gemeinsamen Weg bleiben.
Von Herzen segne und grüße ich Sie
Ihr
Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising
München, im Februar 2023
Fastenhirtenbrief von Reinhard Kardinal Marx zum Download
(PDF | ca. 168 kB)