Wie Berchtesgaden anno 1922 "800 Jahre Stiftskirche" feierte

Auch 1972 wurde zwei Wochen lang das Jubiläum begangen

„Feiern oder nicht feiern – das ist hier die Frage“ – unter dieser Überschrift hat Pfarrer Dr. Thomas Frauenlob im Advent 2021 im „StiftsBoten“ die Gründe erläutert, warum sich die Verantwortlichen der Pfarrei St. Andreas dazu entschlossen haben, im Jahr 2022 „900 Jahre Stiftskirche“ zu feiern, obwohl sich die Weihe 1122 nicht belegen lässt und starke Zweifel erlaubt sind, sowohl was den Zeitpunkt als auch den Gegenstand der Weihe betrifft (war es das Kloster oder eine Vorgängerkirche oder die Stiftskirche?). Den Ausschlag, „900 Jahre Stiftskirche“ trotz der ungesicherten Datenlage zu feiern, gab in erster Linie die große Bedeutung der Stiftskirche, die es verdient, von Zeit zu Zeit ins Bewusstsein gerufen – und auch gefeiert zu werden. „Wir sind froh und dankbar, mit der Stiftskirche St. Petrus und Johannes d. T. eine zentrale, altehrwürdige Mutterkirche der Kirchen im Talkessel zu besitzen, deren Anfänge im 12. Jahrhundert als gesichert gelten können. (…) Nach heutigem Kenntnisstand liegt das genaue Weihedatum im Dunkel der Geschichte und bleibt bis auf Weiteres umstritten. Unbestreitbar ist die Kontinuität des Ortes und einer dort vorhandenen kirchlichen Bausubstanz“, so Msgr. Frauenlob in dem „StiftBoten“-Artikel. An den Historikern liegt es, möglicherweise Licht in dieses Dunkel der Geschichte zu bringen, hier soll es um etwas gehen, was hinreichend belegt ist, nämlich die Art und Weise, wie 1922 und 1972 die Feierlichkeiten „800 Jahre Stiftskirche“ bzw. „850 Jahre Stiftskirche“ begangen wurden.

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Rechtzeitig zum Beginn der Jubiläumsfestlichkeiten 1922 konnten die Renovierungsarbeiten im Inneren der Stiftskirche abgeschlossen werden. „Dem Feste voran ging ein Triduum“, schrieb der „Anzeiger“ damals, „gehalten in der verdienstvollen Absicht, auch die Seelen zu restaurieren. Der Prediger, H. H. P. Schäfer aus Bischofshofen, konnte jedesmal bei seinen Predigten vor gefüllter Pfarrkirche sprechen …“

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Höhepunkt der Jubiläumsfeier war am Sonntag, 15. Oktober, ein Festgottesdienst mit Weihe der renovierten Stiftskirche und anschließendem Festzug. „Wie vor 800 Jahren ein Kirchenfürst aus dem alten Juvavum kam“, schrieb der „Anzeiger“, „um das mächtig ragende Gotteshaus einzuweihen, so erschien auch am gestrigen Tage wieder ein Salzburger Kirchenfürst, um der Neueinweihung besondere Feierlichkeit zu verleihen. Se. Fürsterzbischöfliche Gnaden Dr. Jgnatius Rieder war der Einladung zur Teilnahme an dem Feste gefolgt. (…) Unter kirchlichen Gesängen erfolgte der Einzug in das außen und innen geschmackvoll und würdig geschmückte Gotteshaus, in dem alsbald Hochw. Herr Expositus Stef. Blum, ein Sohn Berchtesgadens, die Kanzel zur Predigt bestieg. Tiefdurchdachte Worte richtete der H. H. an die andächtig lauschenden Zuhörer, die so zahlreich erschienen waren, daß sie das geräumige Gotteshaus nicht zu fassen vermochte und viele noch im Kreuzgang Aufstellung nehmen mußten. (…) Das vom H. H. Fürsterzbischof zelebrierte Pontifikalamt mit seinem reichen Zeremoniell und der erhebenden Chormusik hinterließ einen unvergeßlichen, andachtsvollen Eindruck.“

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Nach der kirchlichen Feier folgten der Festzug und der Festakt. Auf einer Tribüne am Schlossplatz hatten unter anderen Fürsterzbischof Dr. Ignaz Rieder, S. K. H. Kronprinz Rupprecht mit hoher Gemahlin, der Vertreter der Staatsregierung, die Bürgermeister der zur Pfarrei gehörenden Gemeinden sowie der Klerus Platz genommen. An dem riesigen Festzug, der sich vom Luitpoldhain durch den flaggengeschmückten Markt zum Schlossplatz bewegte, nahmen teil: 1. Gruppe: Berittene Postillione, Post- und Eisenbahnbeamte, Straßenwärter, Freiw. Sanitätskolonne; 2. Gruppe: Knappschaft und Saline von Berchtesgaden und Knappschaft von Dürrnberg; 3. Gruppe: Veteranenvereine Markt und Land, Ramsau, Schönau, Schellenberg, Luitpoldkanoniere, Leib-Reg.-Vereinigung, Feuerwehren von Berchtesgaden, Bischofswiesen, Stanggaß, Engedey, Königssee, Salzberg, priv. Feuerschützengesellschaft, Liedertafel, Gesellenverein, Sport- und Turnverein, katholischer Arbeiterverein, Bergführerverein, dann Ramsauer und Schellenberger Prangerschützen, Weihnachtsschützen; 4. Gruppe: Mitarbeiter an der Restaurierung der Stiftskirche, Zünfte: Zimmerleute, Maurer, Schaffelmacher, Schuster, Schnitzer, Schachtelmacher, Müller und Schmiede; 5. Gruppe: Schiffer und Fischer, Jäger und Holzknechte; dann Marienheim; Wagen mit Kindern in Tracht; Berchtesgadener Bürgerinnen; Gruppen alter Bauerntrachten: Gebirgstrachtenerhaltungsvereine: „Untersberger“ mit Festwagen, „Edelweißer“, „Funtenseer“, „Schellenberger“, „Salzberger“, „Ramsauer“; Sennerinnen und Kühbuben mit geschmücktem Vieh. Die Zusammenstellung des Festzuges hatte Kunstmaler Bernhard Wenig übernommen.
Beim Festakt am Schlossplatz begrüßte Pfarrer Dr. Oberhauser, dann sprachen der Vorstand des Bezirksamtes, Oberregierungsrat Baron v. Feilitzsch, der Vorsitzende des historischen Vereins Berchtesgaden, Oberforstmeister Hauber, sowie der 2. Bürgermeister Berchtesgadens, Rothe, und der Bürgermeister von Salzberg, Franz Brandner. Nachfolgende Bemerkung konnte sich der „Anzeiger“ offenbar nicht verkneifen: „Bei der schlechten Akustik des Schloßplatzes und der großen Unruhe des Publikums, das sich überhaupt wenig rücksichtsvoll benahm, war es nur den Tribünenbesuchern und den der Tribüne zunächst stehenden möglich die einzelnen Redner zu verstehen. Die Reden auch nur auszugsweise zu bringen ist uns schon deshalb unmöglich, weil der Presse keinerlei Platz zugewiesen war, wie es andernorts wohl üblich ist.“ Nichtsdestotrotz erschienen in der Beilage „Bergheimat“ am 25. November die Reden von Feilitzsch und Brandner im Wortlaut.
Im Kapitelsaal, wie die Gotische Halle des kgl. Schlosses damals genannt wurde, fand eine Ausstellung von Werken christlicher Kunst statt. Die Abbildungen berühmter Kunstschätze stellte Kunstmaler Anton Schöner aus seiner kunstwissenschaftlichen Sammlung zum Besten der Restaurierung der Stiftskirche zur Verfügung. „Möge diese Ausstellung dazu beitragen, das Kunstinteresse im Berchtesgadener Lande zu fördern, veredelnd wirken und echte Kunst in jedes Heim und Herz hineintragen“, wünschte sich der „Anzeiger“.

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Am Abend des 15. Oktober, des Kirchweih-Festtages, fand auch die erste Aufführung des Passionsspiels von Dr. Hermann Dimmler im Theatersaal des Hotels „Vier Jahreszeiten“ statt. Seine fürsterzbischöfliche Gnaden und S. K. H. Kronprinz Rupprecht und Frau Prinzessin Rupprecht wohnten der ausverkauften Aufführung des frommen Spieles bei. Der „Anzeiger“ war voll des Lobes: „Dem Leiter des Festes und der Aufführungen, P. Jos. Schaefer von St. Rupert Bischofshofen ist es gelungen in verhältnismäßig kurzer Zeit aus den vollkommen ungeübten Laienspielern eine in Sprache, Ausdruck und Gebärde so abgerundete, künstlerisch hochstehende und seelisch vertiefte Wiedergabe des großen religiösen Geheimnisses zu erzielen, daß auch der verwöhnteste Fachmann und gerade dieser mit Staunen die Wahrnehmung machen muß, welche lauteren und ungemünzten Schätze in der Tiefe unseres Volkes noch ruhen. (…) Ein Ereignis war es auch, daß der bekannte Thierseer Christusdarsteller, Zimmermeister Kaindl die Christusrolle übernommen hatte. Schlichte, tiefe Frömmigkeit vereinigt sich in dieser kernigen Tiroler Bauerngestalt mit einer seltenen naturhaften elementaren künstlerischen Begabung, so daß alles Theatermäßige vollkommen abgestreift wird und die Gestalt Christi in ihrer erhabenen Wirklichkeit zu uns spricht, als lägen nicht zweitausend Jahre zwischen uns und ihrem Wandel auf Erden.“

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In der zweiten Septemberhälfte 1972 wurde das Jubiläum „850 Jahre Stiftskirche“ zwei Wochen lang gefeiert. Geistlicher Rat Otto Schüller hielt im Bauerntheater zwei Lichtbildervorträge über die Geschichte des Reichsstiftes Berchtesgaden. Die Kurdirektion veranstaltete ein Orgelkonzert mit Professor Stefan Klinda, Salzburg, die Marktkapelle gab ein gut besuchtes Standkonzert am Schlossplatz. Außerdem fanden ein Chor- und Orchesterkonzert und ein Volksmusikabend statt.

20220617 104022akleinDas Heimatmuseum Schloss Adelsheim zeigte in einer Sonderausstellung Dokumente, Gemälde und Kunstwerke, die sonst nicht zu sehen sind. Höhepunkt der Jubiläumsfeier war ein festlicher Pontifikalgottesdienst in der Stiftskirche, zu dem der Stiftskirchenchor unter Leitung von Chormusikdirektor Felix Mayer die Haydnmesse aufführte. Weihbischof Michael Defregger überbrachte die Grüße von Kardinal Döpfner, der am Kommen verhindert war, und betonte in der Predigt seine Freude, dass die schöne, alte Kirche sämtliche Wirrnisse ihrer Geschichte gut überstanden habe.

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Seinen zweiten Lichtbildervortrag beschloss Pfarrer Schüller damals mit folgenden Worten: „Ansonsten ziehe ich mich als Pfarrer gern in „meine“ Stiftskirche zurück. Ich liebe sie in der Pracht ihrer Festtage und auch in der Stille ihrer Werktage. Ich liebe sie vor allem an den Abenden, wenn ich allein in ihr sitze. Jahrhunderte werden mir hier gegenwärtig. Generationen haben hier gebetet. Segen ist von ihr auf das ganze Berchtesgadener Ländchen ausgegangen – nicht messbar zwar, aber spürbar. Und manchmal stehe ich besinnlich vor dem Grabmal des alten Propstes Pienzenauer und fühle mit den Fingern über das Band an seinem Hirtenstab. „Hab go liebe“ steht darauf. Schlichter und gläubiger kann keiner der Nachfolger der alten Pröpste ausdrücken, was er sich und seiner heutigen Gemeinde wünschen kann.“

Andreas Pfnür

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